Jeder Übersetzer ist ein Leser  

Jeder Übersetzer* ist ein Leser – mit Hirn, Herz und … Grenzen

 

 

«Jeder Übersetzer ist ein Leser

Na ja, das ist doch eindeutig. Denn um einen Inhalt zu übersetzen, muss man diesen zuerst mal gelesen haben**.

Die wörtlichen Inhalte sind aber keine trockene Materie, sondern sie haben eine Seele. Oder besser gesagt: Sie sind Spiegelbilder unserer eigenen Seele.

Von daher sind sie in der Lage, was in uns auszulösen.

 

 

Der Übersetzer hat seine eigene Meinung (und was macht er damit?)

Der Übersetzer setzt sich also beim Bearbeiten eines Textes auch zwingend mit deren Inhalten auseinander, was nicht unbedingt immer schmerzlos ist – im übertragenen aber manchmal auch im wahrsten Sinne des Wortes: Inhalte rufen Überlegungen und Meinungen hervor («Ach ja? Ist das wirklich so?» oder «Ja, da bin ich genau gleicher Meinung»), lösen Gefühle aus («Toll! Das gefällt mir!» oder «Oh Schreck! Wie schlimm!») und lassen uns manchmal auch buchstäblich sprachlos.

Denn ja: Wie jeder Mensch, hat auch der Übersetzer seine eigene Meinung – dies lässt sich keineswegs bestreiten. Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt ist aber nicht: «Darf er das?»- denn ja, als Mensch hat er das Recht dazu- sondern eher: «Was macht er damit?».

 

Professionalität und Erfahrung

Das Thema der Machbarkeit einer Übersetzung umfasst also nicht nur Bereiche wie «die eigene Fachkompetenz», «Tarife» oder «Lieferfrist», sondern sie bezieht auch andere, persönliche sprich ethische Aspekte mit ein: «Bin ich bereit, mich mit diesem Inhalt auseinanderzusetzen und ihn damit mitzugestalten?».

Dies wirft zwangsläufig auch die Frage von Professionalität auf. Und auch die Frage nach deren Definition: Was würde heissen, professionell zu handeln, wenn man vor einem Inhalt steht, der in einem ein innerliches Zucken auslöst und der man, wenn man einzig nach dem Lustprinzip handeln könnte, nicht unbedingt mit der grössten Begeisterung übersetzen würde? Soll man einfach nur «ein Auge zudrücken» und den Mandat doch noch annehmen? Oder soll man eher seine eigenen Grenzen (und möglicherweise auch diejenigen anderer) respektieren und den Antrag ablehnen?

Es gibt keine klare Antwort auf diese Fragen, denn es gibt keine allgemeingültige Definition darüber, was «vertretbare» und was «nicht vertretbare» Themen sind.

Hier zählen rein das eigene Gespür und die eigene Erfahrung. Wichtig ist aber, dass wenn man doch noch beschliesst, Texte zu akzeptieren, die man nicht mag oder die in einem Ablehnung auslösen, muss man zu diesem Entscheid stehen und die entsprechenden Abfassungen genau so behandeln, wie diejenigen, die man mag.

Konsequent.

Umgekehrt und aus dem Gleichberechtigungsprinzip handelnd gilt auch, dass Inhalte, die man hingegen sehr mag, nicht plötzlich mehr Sorgfalt verdienen, nur weil sie uns gefallen. Beim Durchlesen dieser Texte werden wir vielleicht mehr Freude verspüren und deren Übersetzung wird uns womöglich auch leichter fallen. Aber die Qualität unserer Arbeit darf nicht direkt proportional zum Geschmack für ein bestimmtes Thema erfolgen.

Denn ein Profi ist ein Profi – in guten wie in schlechten Zeiten.

Wenn man aber diese Haltung nicht gewähren kann, sollte man sich vielleicht die Gegenfrage stellen: Soll ich diese Texte lieber ablehnen, gerade weil sie mir gefallen?

 

Werte und Würde

 

Zurück zum «sensiblen» Thema: Die unangenehmen Inhalte.

Wenn man sie wirklich nicht zulassen kann darf man sie ruhig ablehnen, finde ich. Und um dies einem potentiellen Kunden offen, vorgreifend und transparent mitzuteilen, helfen klare Rahmenbedingungen. In diesem Fall: klare Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGBs).

In meinen eigenen, zum Beispiel, erwähne ich deutlich, dass ich mir das Recht behalte, «Übersetzungen, Revisionen oder Korrekturlesen von Texten abzulehnen, deren Inhalte die menschlichen Rechte verletzen, gegen die Ethik verstössen, die menschliche Sicherheit beeinträchtigen oder anderweitig anstössend oder beleidigend gegenüber Menschen oder anderen Lebewesen sein können», und dass ich «insbesondere Inhalte mit (explizitem oder implizitem) diskriminierendem, dubiosem oder sogar diffamierendem Charakter ablehnen» kann.

Es geht hier um die Wahrung von menschlichen Werten. Und von der Würde von uns allen.

Man wird aber auch mal gelegentlich Inhalte ablehnen, wessen störenden Charakter nicht so stark ausgeprägt ist, aber hinter denen man trotzdem nicht ganz und gar stehen kann.

Auch hier ist es einem selbst überlassen, wann es Ja und wann es hingegen Nein lauten wird.

 

Die eigenen Grenzen als Lernfeld

Das Thema der Wahrung von Grenzen ist sehr komplex und man könnte ausserdem stundenlang über die Definition von Grenzen debattieren sowie darüber, ob man eine Grenze überhaupt wahren oder eher überwinden soll.

Ich werde an dieser Stelle aber bewusst nicht tief darauf eingehen, sondern ich möchte diese hochspannende Frage nur kurz erwähnen, als Anregung zur Reflektion.

Tatsache ist, dass Grenzen uns dazu herausfordern, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten. Und dass diese Erfahrung lehrreich sein kann.

In diesem speziellen Fall ebenso.

 

Hirn und Herz als Arbeitsinstrument

Die Aktion des Lesens (mit Hirn und Herz) dient aber nicht ausschliesslich der Entscheidung über die Machbarkeit eines Übersetzungsantrags, sondern sie hilft dem Übersetzer glücklicherweise auch bei seiner eigentlichen Arbeit, nämlich beim Übersetzen und beim Selbst-Revidieren des zu bearbeitenden Inhaltes.

Diese Kombination von Denken und Fühlen hilft ihm also auch, seine Aufgabe möglichst überzeugend und elegant, sprich erstklassig zu gestalten und damit seiner Mission als Botschafter getreu zu bleiben.

(Lorenza Oprandi, Juli 2020)

 

Wenn Sie auf diesen Artikel reagieren möchten, können Sie mich hier anschreiben. Ich bedanke mich im voraus dafür!

 

*Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. Darüber hinaus bezieht sich hier der Begriff «Übersetzer» eher auf Freischaffenden.

**In der Transkription, einer Form von «Übersetzung», geht es um das Verschriftlichten von gesprochenen und teilweise auch nonverbalen Kommunikationsinhalten. Diese werden durch andere Sinneskänale (Hören, Sehen) auf- und wahrgenommen. In diesem Text geht es aber ausschliesslich um die «herkömmliche» Übersetzung, welche durch das Lesen von schftlichen Inhalten erfolgt.

 

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